Antennen

von Wilfried Nauck

 Ährenkranz und Hakenkreuzfahne

Es dämmert am Vorabend des ersten Mai. Im sozialistischen Neubaublock an der Straße der ‘ewigen brüderlichen Freundschaft’ gehen die Lichter an. Im Dunkeln öffnen sich Küchenfenster der Südseite, in deren Rahmen Bewohner seltsam hantieren. Ich blicke zum Fenster des Nachbarn. Soll doch erst Genosse Pitzo seine ‘Hakenkreuzfahne’ raushängen, nachdem die ‘Ährenkranzfahne’ schon hängt. Er hat extra einen zweiten Fahnenhalter angebracht, um beide Fahnen gleichzeitig hängen zu können. Die ‘Hakenkreuzfahne’ ist eine von seiner Partei so bezeichnete Ochsenkopfantenne, gerichtet auf den Sender im bayrischen Wald, dessen Berg ihm den Namen gab, der Pitzos Partei Gelegenheit zu primitiven Anspielungen verschaffte. Genossen Pitzo stört das nicht, mich erst recht nicht und so schwinge ich meine Spezialkonstruktion aus, die keinen zweiten Fahnenhalter braucht und aus zwei Stabantennen sowjetischer Bauart besteht, die die Soldaten der Jenaer Garnison zwecks Wodkabeschaffung verscherbelt haben.

 

Der Wert einer Wohnung wird stark mitbestimmt durch die ‘Empfangslage’. Unsere ‘Empfangslage’ ist meistens gut, außer die ‘Russen’ senden von der Garnison zum Panzergelände. Dann wird der Bildschirm dunkel und ‘ras,dwa,tri’ ertönt aus dem Lautsprecher. Manchmal ist der Spuk schnell vorbei, wenn nicht, muß der ‘Russentod’ eingesetzt werden. Der ‘Russentod’ besteht aus einer Blechbüchse, in deren Innern zwei Anschlüsse, eine Spirale und eine Kupferplatte angebracht sind. Durch Verstellen der Kupferplatte mittels einer Schraube kann man die ‘Russen’ dämpfen und ein fades stark gestörtes Bild herbeikitzeln, ein Volkssport, der die Möglichkeiten besetzter Völker zu symbolisieren scheint, der Macht mit bescheidenen Mitteln ein Quentchen auszuweichen.

 

Das Großprojekt

Nach einem Wohn-Intermezzo in Neulobeda beziehen wir ein Häuschen im Grünen, leider wieder nicht weit weg von der Garnison. (Am Kieshügel) .Zunächst geht der Farbfernseher nicht, weil die Netzspannung bis auf 170V absinkt, da hilft ein Spannungsregler .Der „Russentod“ wird leider häufig gebraucht. Im Äther tönt es ‘ras,dwa,tri’, die Turbinen-Panzer fauchen auf der Landgrafenhöhe und dicke Schwaden stinkend nach Altöl und verbranntem Gummi ziehen aus den Kasernenschloten über die Stadt. Auf dem Nachbarberg werden Raketen eingegraben, Jenas bekanntester Wanderweg wird stückweise auf Raketenlafettenbreite erweitert. Die Stadtbewohner haben den Eindruck, mißmutig geduldete Gäste einer Riesen-Garnison zu sein. Doch auf unbesetzten Thüringer Höhen tut sich Wunderliches. Gittermasten wachsen empor, an denen die Nachkommen der ‘Hakenkreuzfahnen’ hängen, geflissentlich übersehen von Pitzos Partei einschließlich ihrer sicherheitssüchtigen Organe. Die Partei hat den Kampf gegen die ‘Hakenkreuzfahnen’ aufgegeben, es gerüchtelt, die Organe hätten festgestellt, die staatseigenen Bürger wären ruhiger, wenn sie ihren Kopp in die Westglotze stecken können. Des Drehens am Russentod müde, stelle ich den Antrag auf Errichtung einer Gemeinschaftsantennenanlage für ‘internationalen Fernsehempfang’. Der Antrag läuft, die ‘nationale Front’, das harmlos-zivile Überwachungsorgan prüft, die Deutsche Post der Deutschen Demokratischen Republik prüft auch und ich robbe mit Gleichgesinnten durch die Brennesseln, begleitet vom Fauchen der Turbinen-Panzer, um ein ziviles Fleckchen mit sehr guter ‘Sicht’ zu finden, in zwei Kilometer Entfernung werden wir fündig. Eine Umfrage in allen Nachbarstraßen ergibt ‘überwältigende Zustimmung’, nur getrübt vom Knurren der Hardliner-Genossen. Die Genehmigung trifft ein und das wahrhaft kollektive Werk kann beginnen. Brigaden werden gebildet, Verantwortung delegiert, Materialbeschaffung organisiert, privat geht vor Katastrophe. Mit edlem Bier beladene Delegationen reisen zum volkseigenen Kabelhersteller und treffen auf viel Verständnis. Die Rapporte sind fast so streng wie im traditionsreichen ortsansässigen Kombinatsbetrieb, in dem sich die Genossen Hugo, Ernst, Wunderlich und Biermann die Klinke des Chefbüros in die Hand gaben, wobei das Fußvolk meint, erst waltete Hugo, dann wurde es ernst, dann wurde es wunderlich und dann war Hopfen und Malz verloren. Und schließlich hebt der große Tag an, wo das Volk von seinem Wohnhügel hinaus zieht auf den erwählten Berg und mit Spitzhacke, Schaufel und Schubkarre, aber wo es sein muß auch mit Preßluftmeißel eine Furche zieht von tausenden Meter Länge und vorgeschriebener Tiefe, in die das von verständnisvollen Werktätigen gelieferte Kabel versenkt wird. Auch wir setzen einen Gittermast und behängen ihn fachkundig beraten mit Aluminiumfahnen.

Unsere Häuser verbinden neue Drähte und nur sehr selten müssen wir einen Bogen um ein Grundstück machen, dessen Besitzer sich ausschließt, ungefähr so selten, wie eine Gegenstimme bei der Wahl der Kandidaten der ‘Nationalen Front’. So kann sich das Volk unseres Wohnhügels ein Weihnachtsgeschenk machen: Westfernsehempfang ohne Bildschirmverdunkelung und ‘ras,dwa,tri’. Wir sind stolz und glücklich auf unser Werk, stolzer und glücklicher als auf viele Arbeitsergebnisse und ich erzähle augenzwinkernd meiner naiven jungen Kollegin, mein Lebensziel wäre es, wenn am besagten Gittermast eine Gedenktafel von unseren Taten kündete und Scharen von ‘Jungen Pionieren’ noch nach Generationen andächtig dorthin pilgern würden.

 

 

Die Wende

Doch Egon riss im Fallen die Mauer ein, das Bessere ist der Feind des Guten und weniger Guten, das Mauerloch übertrumpfte das Guckloch. Was Pitzos Partei als Menetekel an der Mauer gesehen haben wollte, den Einzug der Bundeswehr mit klingendem Spiel durchs Brandenburger Tor, das geschah nun ohne Spektakel auf der A4. Zuvor hatten wir noch schnell die Antennenkasse erleichtert, mit ‘Schwindelkurs’ eine Schüssel gekauft und jedem ein Anteilstückchen zurückgezahlt, falls die Aluchips bald nur noch Materialwert haben sollten.

Die Antenne empfängt die bekannten öffentlichen und neue private Wellen, nunmehr national und nicht mehr ‘international’, jeder kann sich außerdem eine Schüssel kaufen und damit mehr empfangen als unser stolzer Gittermast. Damit beginnt der Abstieg. Als hätte unser Gemeinschaftswerk diese Degradierung nicht hinnehmen können, beginnen Holzmasten zu faulen und umzufallen, Kontakte zu rosten und Spanndrähte zu reißen. Der unermüdliche Techniker stemmt sich gegen den Verfall, daß sein Familienleben bebt, er bittet schließlich um eine den neuen Zeiten angemessene Rechtsform, um nicht in jeder Hinsicht im Regen zu stehen. Das Ende schon vor Augen, gründen wir einen Verein, um die Fährnisse der neuen Ordnung bestehen zu können. Die Kosten steigen und die Mitglieder, großzügig zu Zeiten der Aluchips, halten die harte Mark fest. Da schon so viel sang- und klanglos zusammengebrochen ist, wollen wir nicht zu denen gehören, die sich mit beleidigter Miene von der Bühne plumsen lassen. Es gibt Offerten von seriösen und weniger seriösen, die uns in ihre Arme schließen wollen. Briefe mit tollen Briefköpfen flattern vor unseren Augen.  Aber der Gretchenfrage können wir nicht ausweichen: investieren, kapitulieren oder fusionieren. Zum ersten fehlt uns Geld und Mut, zum zweiten sind wir zu stolz, so bleibt nur das dritte. Wir treten bei. Mangels Masse können wir keine großen Forderungen stellen, die leichte Kasse wird abgeliefert, die Entsorgungspflichten abgegeben. Es gibt keine Jungen Pioniere mehr, da ist es auch nicht so schmerzlich, wenn bald der Gittermast abgebaut wird, der nie eine Gedenktafel bekommen hat.

 

Nachtrag: Der Gittermast und das Antennenhäuschen stehen noch heute auf der Kante des Jägerbergs, ein paar moderne Richtfunkantennen sind angebracht.